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STREIK:ZEIT – Streik gegen die Zeit

Vortrag | Lecture
Tagung | Conference "Streik / Arbeit", Hochschule für Bildende Künste Dresden, 15./16.01.2016 | January 15-16,

Nach traditionellem Verständnis versteht sich Streik als eine temporäre Niederlegung der Arbeit, die den Rhythmus regulierter Produktion gezielt aus dem Takt bringt, um alternative Arbeits- und damit Lebensbedingungen aushandeln zu können. Neben Lohnerhöhungen als monetärer Anerkennung steht dabei in der Regel vor allem eines prominent zur Debatte: die Relation von Arbeits- und Freizeit, die es zu Gunsten letzterer zu verbessern gilt. Doch inwieweit trägt ein solches Verständnis von Streikzielen heute überhaupt noch?

Nun möchte man zunächst einmal vermuten, dass sich diese Frage für KünstlerInnen kaum so bzw. bestenfalls rhetorisch stellen kann – und zwar nicht nur dann, wenn man sie als "UnternehmerInnen in eigener Sache" verstehen will: Gilt doch die Eigenzeit spätestens seit Beginn der Moderne als gleichsam unverbrüchliches Kapital der Kunst. Indessen muss es umso auffälliger erscheinen, dass insbesondere in den letzten Dekaden sowohl das Thema Arbeit als auch das Thema Zeit eine neue Konjunktur erfahren haben.

Dass es sich dabei kaum um einen Zufall handeln dürfte, liegt auf der Hand – eher schon möchte man fragen, ob überhaupt von Verschiedenem die Rede ist. Tatsächlich scheint mit der systematischen Deregulierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse unter den Konditionen eines globalen Kapitalismus allem voran die traditionelle Teilung in Arbeits- und Freizeit eben jenem "24/7" Platz zu machen, dessen umfassende Wirkmacht Jonathan Crary in seinem Buch gleichen Titels beschreibt (Crary 2013).
24/7 ist eine Zeitrechnung, die keine Ausfälle aus dem Kreislauf von Produktion und Konsumption kennt, zumal diese im Idealfall zusammenfallen – personifiziert in der Figur des Prosumenten, der dafür zahlt, dass er zu- bzw. mitarbeiten darf. Vor allem aber liegt es in der Logik des Systems, dass es in letzter Konsequenz keine Aus-Zeiten von der Arbeit mehr kennt: Ihre ursprünglichen Funktionen, die zu kontrollieren und sich einzuverleiben der Kapitalismus zu seinen historischen Errungenschaften zählen kann, werden systematisch entwertet und/oder ausgelöscht.

An ihre Stelle ist das Paradigma einer ständigen Aktivität und pausenlosen Produktivität getreten, des Selbst, das nurmehr über seinen "Output" definiert wird bzw. sich definieren kann. In diesem Zuge werden nicht nur Nichtstun und Müßiggang, sondern letztlich sämtliche Formen und Spielarten der Nicht-Beschäftigung, wie Arbeitslosigkeit, Pause, Urlaub, Muße und schließlich sogar Müdigkeit, Erschöpfung und Schlaf einerseits diskreditiert und pathologisiert – andererseits aber auch mythisch überhöht.

Letzteres, also die Stigmatisierung und Stilisierung von der Norm abweichender Verfassung bzw. devianten Verhaltens zum gesellschaftlichen "Anderen", das als utopische Ressource einer spezifischen Charismatisierung unterliegt, kann aus der Perspektive der Kunst durchaus bekannt vorkommen. Dass es mit Jonathan Crary ein Kunst- und Kulturwissenschaftler ist, der eine prägnante Analyse dieses status quo vorgelegt hat, verwundert jedoch nicht allein aus diesem Grund kaum. Vielmehr ist der zu konstatierenden Konjunktur einer Doppelfigur eine Reihe von Entwicklungen vorgängig, die namentlich im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an Kontur gewinnen – und bereits zu dieser Zeit sowohl in der Kulturtheorie als auch in den Künsten selbst bearbeitet werden.

Nicht nur datieren in diese Zeit relevante Überlegungen zum Status, Affekten und Effekten immaterieller Arbeit (Lazzarato 1996, Lazzarato/Negri/Virno 1998), wirtschaftswissenschaftliche sowie soziologische Studien, die KünstlerInnen und PublizistInnen als Avantgarde einer künftigen Arbeitsgesellschaft untersuchen (Boltanski/Chiapello 1999, Haak/Schmidt 1999). Zugleich ist es das Jahrzehnt, in dem die – eben keineswegs allein technologische – Entwicklung hin zu einer vernetzten Informations- und Medienkultur an Fahrt aufnimmt, in der gleichsam alle jederzeit on(line) sind bzw. zu sein haben.
Dass KünslerInnen und Kulturschaffende zu jenen gehörten, die diese Entwicklungen von Anfang an aktiv begleitet und kritisch reflektiert haben, mag angesichts der aktuellen Hegemonie global agierender Medienkonzerne einerseits und eines vom selben Turbo-Kapitalismus bestimmten Kunstsystems andererseits dennoch mitunter in Vergessenheit geraten. Und zwar nicht zuletzt, weil der erfolgreiche "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (Kluge 1985) und der Status einer ?eternal presence? Vergangenheiten ebenso wie Zukünfte auf subtile Weise löscht, insofern beide – als Realitäten und als Utopien – weiterhin eine gespenstische Präsenz behaupten dürfen bzw. müssen: Selbst Marx’ Spektren sind in diesem Sinne ?always on? – auch in der Gegenwartskunst.

Vor diesem Hintergrund will der Beitrag die Formationen der Relationen von Arbeit und Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die aktuelle Gegenwart näher betrachten und ausgewählte Szenarien und Bilder, Objekte und Projekte, in denen die konditionale Doppelfigur von Arbeit(s)Zeit und namentlich die Affekte und Effekte ihrer mählichen Verschmelzung exemplarisch greifbar werden, im Kontext der ihnen zeitgenössischen populären Bild- und Medienpolitiken jener kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zur Diskussion stellen. Die Leitfrage wird dabei sein, ob und wenn ja welche Hinweise hieraus zur (Un)Möglichkeit eines Streiks gegen die Zeit gewonnen werden können.

Hintergrundinformationen | Background Information:

Forschungsprojekt TIME BENDING CLOCK auf www.under-construction.cc | research project TIME BENDING CLOCK at www.under-construction.cc

projekte: Künstler-Bilder, [IN]VISIBILIA, Time Bending Clock, Spielzeug und/als Werkzeug

dachprojekte: [IN]VISIBILIA, Spielzeug und/als Werkzeug

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