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Fächerreport Medizin Ausstieg aus der Praxis

Arzt zu sein gilt noch immer als Traumberuf. Doch viele Mediziner sind unzufrieden und wechseln ins Management, in die Medizin-Informatik oder die Pharmaindustrie.

Natürlich sei sie sich während ihres Medizinstudiums "absolut sicher" gewesen, dass sie "einmal als Ärztin arbeiten" würde, sagt Sabine Griem, die heute Medizincontrollerin im Evangelischen Krankenhaus Elisabethenstift in Darmstadt ist. "Und während meiner ersten Berufsjahre als Chirurgin war ich eine Vollblutärztin."

Doch dann reifte in ihr der Gedanke, dass es auch interessant und lohnend sein könnte, an einer anderen Stelle im Gesundheitssystem zu wirken. "Ich habe schon im Studium gerne organisiert", erzählt die promovierte Medizinerin, "aber als ich als Chirurgin mal versucht habe, eigenständig eine Kleinigkeit an den Abläufen zu verbessern, wurde ich von meinem Chef sofort ausgebremst."

Während ihrer Elternzeit begann Griem einen Kurs in "Medical-Controlling" am Kölner mibeg-Institut, das examinierte Mediziner auf verschiedenen Gebieten, etwa im Controlling, in der Medizin-Informatik oder im Krankenhausmanagement weiterbildet. Griem war begeistert: "Als Chirurgin sind mir viele Dinge aufgefallen, die im Krankenhaus einfach nicht funktionieren. Jetzt habe ich gelernt, wie man diese Abläufe professionell organisieren kann."

Nach der Weiterbildung fand sie sofort einen guten Job als Medizincontrollerin an einem Krankenhaus. Sie wechselte noch ein paarmal, bildete sich zusätzlich weiter, war zwischendurch auch für eine Unternehmensberatung tätig, bis sie schließlich in Darmstadt landete. "Meine Tätigkeit hier", sagt sie, "ist sehr vielseitig."

Griem berät zum Beispiel die Geschäftsführung in Fragen der erst kürzlich eingeführten Fallpauschalen. Zudem beantworte sie Anfragen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen, der in Zeiten der Geldnot immer häufiger bemängelt, dass ein Patient zu umfangreich, zum Beispiel zu lange im Krankenhaus behandelt wurde. Griem muss dann Fehler oder Missverständnisse aufklären und ansonsten die Arbeit der Ärzte gegenüber den Krankenkassen verteidigen.

"Ich behandle zwar jetzt keine Patienten mehr", sagt Griem. "Aber ich fühle mich trotzdem noch als Ärztin. Denn ich arbeite sehr eng mit den Ärzten zusammen. Ich halte ihnen den Rücken frei, damit sie sich auf ihre ärztliche Arbeit konzentrieren können."

Eine ruhige Kugel schiebt Griem durchaus nicht. 45 bis 50 Wochenstunden werden es meistens. Zusätzlich gibt sie inzwischen selbst Kurse beim mibeg-Institut. Doch dass sie keine Nacht- und Wochenenddienste leisten muss, macht es ihr leichter, ihren Beruf mit ihren zwei Kindern zu vereinbaren.

Griem hat ihren weißen Kittel wohl endgültig an den Nagel gehängt. Ihr Lebenslauf ist trotzdem typisch für eine moderne Medizinerkarriere. Denn ein nicht unerheblicher Teil der ausgebildeten Ärzte sucht inzwischen sein Glück in alternativen Berufsfeldern - in der Pharmaindustrie, dem Krankenhausmanagement, der Medizin-Informatik, in Unternehmensberatungen, Werbeagenturen oder im Journalismus.

Das liegt am Frust über die schlechten Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern, die von mittelmäßigem Gehalt, unbezahlten Überstunden, steilen Hierarchien und Familienfeindlichkeit geprägt sind. Aber auch daran, dass es viele spannend finden, Mittler zu sein zwischen der ärztlichen Welt und dem Rest des Gesundheitssystems, der Wirtschaft, der Politik oder der Bevölkerung.

Dabei sind die Berufsaussichten für Ärzte eigentlich glänzend. Ärzte sind auch in den neuesten Umfragen wie eh und je die angesehenste Berufsgruppe überhaupt. Auf einen Studienplatz kommen fünf Bewerber. Und die Bundesagentur für Arbeit beurteilt den Arbeitsmarkt für Ärzte in Deutschland als gut bis sehr gut. Nur rund 6500 Ärzte waren 2005 arbeitslos gemeldet, das ist eine Quote von etwas über zwei Prozent. Etwa 4800 Stellen sind derzeit unbesetzt. Bei Fachärzten liegt die Arbeitslosigkeit sogar fast bei null.

Trotzdem arbeiten inzwischen über 12000 deutsche Ärztinnen und Ärzte im Ausland, vor allem in den USA, in Großbritannien, in der Schweiz und in Skandinavien. Tendenz: steigend. Andere verdingen sich wie Sabine Griem anderswo im Gesundheitssystem. Und etwa ein Fünftel bricht, was vor 15 Jahren noch die absolute Ausnahme war, das Studium vorzeitig ab. Von 11660 Abiturienten, die 1997 ihr Medizinstudium begannen, ergab eine Erhebung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, sind 2003 nur knapp 60 Prozent als Arzt im Praktikum ins deutsche Berufsleben gestartet (siehe Grafik).

Zwar ist Arzt für viele noch immer ein Traumberuf. Der Umgang mit Menschen, die Abwechslung, die Tatsache, dass man helfen kann, hat nicht an Anziehungskraft verloren. Doch deutsche Ärzte sind so unzufrieden wie noch nie. Auch der längste Medizinerstreik in der Geschichte der Bundesrepublik vergangenes Jahr, in dem sich die Ärzte einen eigenen Tarif erkämpften, hat daran nichts ändern können. Denn es geht nicht nur um zu wenig Geld. Es geht um einen radikalen Wandel in der Berufsperspektive.

Der alte Deal, dass die harten Jahre der Knechtschaft im Krankenhaus nur eine Bewährungsprobe sind für eine goldene Zukunft in einer lukrativen Praxis oder auf einem attraktiven Chefarztposten, funktioniert nicht mehr. Stattdessen wartet auf die Ärzte von heute eine Allgemeinarztpraxis mit viel Arbeit und mäßigem Einkommen oder, immer häufiger, ein Lebensarbeitsplatz im Krankenhaus - oft mit schlechtem Betriebsklima und ohne große Aufstiegschancen.

Gerade das Krankenhauswesen befindet sich derzeit in einem radikalen Umbruch. Etwa ein Fünftel der Kliniken wird aus Geldnot in den nächsten Jahren schließen müssen, der Rest wird privatisiert werden oder sich konsequent umorganisieren müssen.

Im Sog dieses Systemwandels ist das gesamte Selbstverständnis der Krankenhausärzte im Umbruch begriffen. Längst sind sie keine Halbgötter in Weiß mehr, die, losgelöst von den Niederungen der Welt, als Helden über die Klinikflure schweben. Stattdessen werden sie immer mehr zu Dienstleistern, die sich anzupassen haben - an ein Gesundheitssystem, das von finanziellen Engpässen und strukturellen Problemen geprägt ist und sich unter enormem Reformdruck befindet. Wie das neue ärztliche Berufsbild im Krankenhaus in Zeiten der Rationalisierung dabei konkret aussehen könnte, hat als einer der Ersten der Vorstandsvorsitzende der privaten Rhön-Klinikum AG, Wolfgang Pföhler, skizziert.

Gerade diese Systemveränderungen, die viele Ärzte so frustrieren, machen andererseits die alternativen Berufsfelder besonders interessant. Denn sie bieten oft die Chance, die fälligen Umstrukturierungen - etwa Rationalisierung, Prozessoptimierung oder Digitalisierung - nicht zu erleiden, sondern selbst mitzugestalten.

So sind Mediziner zum Beispiel bei Software-Firmen hochgefragt - denn sie sind, etwa bei der Einführung einer digitalen Patientenakte, ideale Mittler zwischen Informatikern und Krankenhäusern.

Auch Unternehmensberatungen, wie etwa McKinsey, rekrutieren regelmäßig Ärzte. Denn niemand kann die Schwachstellen eines Systems so gut analysieren wie jemand, der selbst einmal dringesteckt hat. Und mit Sicherheit macht es mehr Spaß, die Fehler anderer aufzuzeigen, als selbst auseinandergenommen zu werden.

Die wenigsten planen dabei eine Karriere in einem alternativen Berufsfeld gezielt. Oft ist es purer Zufall, etwa, wenn jemand in einer Werbeagentur, die für Pharmafirmen arbeitet, landet. Oder wenn zum Beispiel der Thieme Verlag mal wieder Ärzte sucht, die medizinisches Wissen in die Verlagsarbeit einbringen.

Andere Ärzte machen, oft berufsbegleitend, einen Master of Business Administration, absolvieren ein Public Health Studium oder, wie Sabine Griem, eine Weiterbildung beim mibeg-Institut. Danach stehen ihnen im Krankenhausmanagement, bei Krankenkassen, in der Pharmaindustrie oder auch in Ministerien oft viele Türen offen. Und auch für den, der als Chefarzt Karriere machen will, wird es zunehmend wichtig, über den Tellerrand der rein ärztlichen Tätigkeit hinauszublicken.

Wenn jemand aus der ärztlichen Praxis aussteigen wolle, so Barbara Rosenthal, die Leiterin des mibeg-Instituts, sei es jedoch sehr wichtig, dies nicht allein aus Frust zu tun. "Am besten läuft es", sagt sie, "wenn jemand aus einer positiven Einstellung heraus etwas anderes machen will."

Die meisten Kursteilnehmer sind, wie Sabine Griem, mit ihrem neuen Beruf hochzufrieden. Nur etwa zehn Prozent kehren wieder zur ärztlichen Tätigkeit zurück.

Inzwischen sitzen mibeg-Absolventen überall im Gesundheitssystem, in Krankenhausverwaltungen, Unternehmensberatungen, Ministerien, Universitäten, Pharmaunternehmen. "Von dort aus", so Rosenthal nicht ohne Stolz, "wirken sie auch wieder auf den Bereich des Gesundheitssystems ein, in dem die eigentlichen Ärzte arbeiten."

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