2009-12-01
Im Prinzip Ja.
Vorausgesetzt, die acht Stunden Dienst bestanden aus einem gesunden Büroschlaf, der Bereitschaftsdienst gehörte zur virtuellen Stufe Null und man vertraut dem Inhalt dieser Pressemitteilung des Uniklinikums Dresden mit dem Titel Nachtdienst hat kaum Einfluss auf Leistungsfähigkeit der Ärzte.
"Die Untersuchung sollte klären, ob Ärzte künftig nur noch jeweils einen Tag- oder Nachtdienst leisten sollten, oder ob es vertretbar ist, an den nächtlichen Dienst einen Arbeitstag anzuhängen", erläuterte darin der Studienleiter, der damit den Eindruck erweckt, dass er zwar neben der Richtlinie der EU zur Arbeitszeit, dem Arbeitszeitgesetz und den Tarifverträgen zwischen dem Marburger Bund und dem Uniklinikum oder dem Land Sachsen steht, die so etwas gar nicht zulassen, aber voll in der Wirklichkeit vieler Kliniken.
"Obgleich Ärzte nach dem Nachtdienst schläfriger waren als ihre Kollegen, die ihren Dienst erst antraten, erzielten sie bei dem Rechentest gleich gute Ergebnisse", lesen die erstaunten Kollegen. Haben sie doch aus Ihrer Arbeitswirklichkeit und der reichhaltigen Literatur zu diesem Thema gelernt, dass übermüdete Ärzte unsicher wie unter Alkohol sind und nicht nur ihre Patienten durch Diagnose- und Behandlungsfehler, sondern auch sie selbst durch Unfälle und durch Herz-Kreislauferkrankungen gefährdet sind.
Frage an Radio Eriwan: Glaubst Du, was in der Studie steht?
Im Prinzip, Ja.
Weit entfernt, die Richtigkeit der Untersuchung selbst anzuzweifeln, fragen wir aber nach der Gruppenbildung, der verwendeten Methodik und schließlich der Interpretation der Resultate und greifen dazu direkt auf die beworbene Publikation (Neurology 2009 73: e99-e103) (271 kB) zurück.
Die Ärztinnen und Ärzte wurden nicht etwa mit ausgeruhten Kontrollen verglichen, sondern mit Kolleginnen und Kollegen, die in der Nacht zuvor lediglich keinen Bereitschaftsdienst oder keine Nachtschicht auf der Intensivstation geleistet hatten. Wie eine Arbeitswoche an einer Uniklinik aussieht, an der ernsthaft geprüft wird, ob nach 24h-Dienst nicht am folgenden Tag weitergearbeitet werden kann, wird immerhin damit angedeutet, dass die Kontrollen residents on day shift frequently work overtime. Entsprechend stuften sich die Kontrollen beim Test (spätestens bis 90 Min. nach Arbeitsbeginn) nur zu ca. 27% als Alert ein, die anderen entweder Slightly tired oder 13 % sogar Tired.
Dazu passt, dass der PUI (Pupillary Unrest Index) zwischen den drei untersuchten Gruppen (den sog. Kontrollen, nach Bereitschaftsdienst, nach Nachtschicht) einen hochsignifikanten Unterschied zeigte und zudem bei den Kontrollen mit einem Median von 4,72 deutlich über dem Median ausgeruhter Probanden in der angeführten Literatur mit 3,99 lag, was in der Diskussion nicht zitiert wird.
Möglicherweise hatten die Kontrollen zu einer übervollen Arbeitswoche noch Schlafdefizite aus einem unlängst geleisteten Bereitsschaftsdienst, zu dem sie drei- bis viermal pro Monat eingeteilt waren und für den bei einer kumulierten Schlafzeit von 4,3h (2,8-4,6) in den Tarifverträgen noch eine (illegale) Stufe IV erfunden werden müsste, denn die Stufe II schöpft mit einem Arbeitsanteil von bis zu 49 % (also 8,2 Stunden Ruhezeit) das erlaubte Maß im Vergleich zur Vollarbeit bereits komplett aus.
Die Schichten auf der Intensivstation (nach den Autoren jeweils zwölf Stunden von 8:00h bis 20:00h und von 20:00h bis 8:00h an sieben aufeinanderfolgenden Tagen auf der Station, also mehr als eine 84h-Woche) lassen so keinen Raum für die sicher unverzichtbare Übergabe. Radio Eriwan vermutet, dass die Übergabe zur Vermeidung von Schwierigkeiten mit dem Arbeitszeitgesetz als Freizeit und Ruhezeit angesehen wurde – ein weiterer Baustein für ein Schlafdefizit von mind. 3,5h pro Arbeitswoche, wenn für eine Übergabe nur jeweils eine halbe Stunde angesetzt (und die Zeit für Umkleiden und Ein- und Ausschleusen noch nicht einmal gerechnet) wird. Das erzeugt dann auch Skepsis, ob vor einem Bereitschaftsdienst von 16h tatsächlich der vorangehende Tagdienst eine halbe Stunde später (8:00h) als der reguläre Dienst (7:30h) angetreten werden konnte. Wann im Laufe eines Zyklus der Schichtdienste (geschichtet wurde über ein ganzes Jahr mit einem Wechsel zwischen Tag und Nacht nach jeweils fünf bis sechs Wochen) getestet wurde, lässt die Publikation ebenso offen wie Anzahl und Abstand von Bereitschaftsdiensten vor einer Untersuchung nach einer Nacht ohne Bereitschaftsdienst bei den Kontrollen.
Trotz einer bereits müden Kontrollgruppe unterschied sich passend zum zwischen den drei Gruppen hochsignifikant unterschiedlichen PUI (Pupillary Unrest Index) auch das Ausmaß der subjektiv berichteten Müdigkeit zwischen den drei Gruppen hochsignifikant. Lediglich die Leistungen im seriellen Zahlenadditionstest (PASAT) ergaben keinen signifikanten Unterschied zwischen den drei Gruppen.
Werfen wir also noch einen Blick auf den PASAT (Paced Auditory Serial Addition Test). Dabei werden von einem Computer in zufälliger Folge Ziffern zwischen 1 und 9 vorgesprochen. Nach einem Stopp muss der Proband die letzten beiden Ziffern addieren. Verwendet wurde eine Kurzfassung, bei der max. 60 Richtige erzielt werden konnten. Die Resultate des Tests, ursprünglich zur Bewertung der kognitiven Einschränkung Hirnverletzter und ihrer Besserung im Verlauf einer Rehabilitation entwickelt, sind so abhängig von Alter, Schulbildung, Intelligenzquotient, Vertrautheit im Umgang mit Zahlen und Rechnen sowie dem kulturellen Hintergrund, dass (von intraindividuellen Verläufen abgesehen) von einem Vergleich der Rohwerte ohne eine Korrektur mit diesen Variablen abgeraten wird.
Durch die Auslese nach Abiturnote und dem seriellen Filter anspruchsvoller ärztlicher Prüfungen liegt bei Ärzten wahrscheinlich eine Gruppe vor, für die der Mittelwert von 54 bei den müden Kontrollen bemerkenswert niedrig liegt. Im Kontext aller Befunde kann die Richtung der Schlussfolgerung auch umgekehrt werden: Der PASAT ist nicht geeignet, einen Unterschied in der kognitiven Leistungsfähigkeit zwischen diesen Gruppen besonders ausgelesener Probanden trotz unterschiedlicher Ermüdung zu messen. Die Studie hat auch keinen Beleg dafür geliefert, dass der PASAT die beruflichen Anforderungen an einen klinisch tätigen Neurologen geeignet abbildet.
"Studie in der Klinik für Neurologie wiederlegt Vorurteil prinzipiellen Leistungsabfalls durch lange Wachzeiten", schrieben die Dresdener im Untertitel ihrer Pressemitteilung. Was die Länge der Wachzeiten anbelangt, wurde die Studie in der Tat in einem geeigneten Umfeld durchgeführt. "Ein Vorurteil ist ein vorab wertendes Urteil (im allgemeinsprachlichen Sinne), das eine Handlung leitet und in diesem Sinne endgültig ist", meint Wikipedia hier. Wenn wir die eindrucksvolle Liste von Untersuchungen mit wissenschaftlich fundierten Ergebnissen zur Auswirkung einer Übermüdung auf den Leistungsabfall bei ärztespezifischen Arbeitsleistungen und den Gesundheitszustand von Ärztinnen und Ärzten durchsehen, finden wir dort objektive Belege für die Schädlichkeit von Übermüdung. Wer also hat hier ein Vorurteil, fragt nun einmal Radio Eriwan zurück?
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